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Neu-Ulms einzig{artig}e Profi-Bühne: Kunst ist die Hefe im Teig

Essayistische Reportage einer Reise nach Beeskow (Brandenburg)

Anfang 1993 war ich der erste Burgschreiber auf Burg Beeskow, nur für wenige Tage. Die Eindrücke des damaligen Aufenthaltes wurden festgehalten in einem Artikel der "Märkische Oderzeitung" (bei der ich 1992 etwa acht Monate Redaktionsberater war). Ich wollte zunächst fürs Net die damals verfaßte essaistische Reportage aktualisieren. Nun entschloss ich mich, sie aber im Originaltext hier zu veröffentlichen, weil dies ein authentisches Dokument ist und die zentralen Aussagen dabei nichts von ihrer dauernden Gültigkeit verlieren. (Heinz Koch)

Wohnung nehmen, hausen, behausen, zu Hause sein...Bauen. Häusle, Burgen oder wenigstens Luftschlösser... Seit einigen Wochen bietet die Burg am Rande des Spreewaldes verschiedenen Künstlern Wohnung. Töpfer, ein Maler, Bildhauer und ein Burgschreiber können dort leben und arbeiten.
Zeitweilig.
Ist das schön für die Künstler? Oder ist es widersinnig, irgendwo Gast zu sein für ein paar Tage oder Wochen und dort Kunst machen zu wollen? Nützt es den Gastgebern?

Abgeschmackte Zerstreuungen

Im Grunde sind Künstler überall und nirgends zu Hause (allenfalls bei sich selber). Im Grunde sind Künstler immer Ausländer, auch im eigenen Land. Vielfach sind Künstler des eigenen Landes verwiesen worden, mußten emigrieren oder landeten im Folterkeller, im Zuchthaus. Komponisten, Karikaturisten, Schriftsteller, Liedermacher, Regisseure, Filmemacher, Schauspieler.

Da, wo Regime nicht so grausam sind, greifen andere Mechanismen. Kunst wird als überflüssig abgetan, wird einfach nicht beachtet, wird zugunsten von "abgeschmackten Zerstreuungen" (Faust) hinten angestellt.

In einer Zeit, die nach Nutzen und Genuss fragt, wird Kunst gemieden. Denn: Kunst ist anstrengend.

Zeitgenössische Kunst ist immer Frage. Künstler finden sich nicht ab, nehmen nichts als gegeben hin, verrücken und - machen verrückt.
Sie loten Tiefen aus und suchen Grenzen zu überschreiten. Sie provozieren, neu zu sehen, verkünden neue oder andere Ansichten, verhelfen zu neuen Perspektiven. Sie lassen die scheinbare Realität aus anderen Blickwinkeln betrachten, setzen den gängigen Wirklichkeits-Konstruktionen eigene Alternativen entgegen.

Natur kennt nur Krummen

Kunst ist Chaos. Chaos ist immer ein Zeichen von Lebendigkeit.

Ordnung ist Tod. Das Leben ist Chaos. Es ist nicht berechenbar, nicht kontrollierbar. In der Natur gibt es keine Geraden, nur Krummen.
Panta rei, alles fließt.
Und dabei ändert es sich.
Unwiderruflich.
Was passiert ist, ist passiert.
Alles ist unsicher.
Je tiefer und weiter wir mit Hilfe der Wissenschaft in neue Welten vordringen, desto größer wird die Unsicherheit.

Kunst und Künstler nehmen diese Unsicherheit an, verstärken sie, stellen Fragen nach Leben und Tod, nach Sein oder Nichtsein, nach Ewigkeit und Vergänglichkeit, nach dem Endlichen und dem Unendlichen. Und:
lassen die Antworten offen. (Das unterscheidet sie von Priestern, die Antworten zu haben vorgeben.)

Godot kommt nie

Wenn der große Sinn verloren gegangen sind, werden die Rituale wichtig. Entscheidend ist plötzlich, wie gebetet wird, nicht mehr was zu wem. Wer nicht dieselben Rituale pflegt, wird gnadenlos bekämpft, vernichtet, wer nicht dieselben religiösen/ideologischen Krücken benutzt bei der Pilgerfahrt durch dieses Jammertal.
Künstler stellen alle Antworten in Frage, behaupten: "Wissen ist Tod! "
Pferde sind blau. Godot kommt nie. Der Kaiser ist nackt. Der große Diktator ist ein Nichts. Die Partei hat meistens unrecht. Das Bewußtsein bestimmt das Sein. 1 + 1 = 3.

Burg Beeskow bietet Künstlern Wohnung. Zeitgenössische Kunst soll da gemacht werden. Ist das tatsächlich gewünscht von denen, die das Geld geben? Hoffentlich!
Hoffentlich gilt für die Arbeit auf Burg Beeskow der Satz: "Kunst ist die Hefe im Teig, nicht die Sahne auf dem Kuchen".

Fragen

Was wirst Du denn da in Beeskow schreiben?
Welche persönlichen Dinge räumen Sie denn in die Burgschreiber-Kemenate ein?
Was wollen Sie denn hier schreiben?
Haben Sie schon eine Idee?
Was schreiben Sie denn sonst so....?
Wird Beeskow Ihnen denn nicht langweilig, so ohne Nachtleben?
Halten Sie es denn aus, wenn es so ruhig ist?
Haben Sie schon eine Seite fertig?

Gegenfragen

Wo ist der Papierkorb?
Weshalb hat die Schreibmaschine kein Farbband?
Wie kriege ich den Kopf frei ohne Dusche?
Wann schreiben Sie mal was?

Kahle Wände, unbeschriebene Blätter - wirklich ein guter Anfang. Ja, am besten verzichten auf das Mitbringen. Von Dingen vor allem. Ballast ist ja genügend da: Erinnerungen, Erlebnisse, Vorstellungen, Erfahrungen vielleicht. Dreck, Müll, Gehirnfürze. Ideen womöglich, Absichten.
Meist bloße Extrapolationen. Mann - was man schon alles gemacht hat....
Und was man schon alles tun wollte....
Und was man besser gelassen hätte...
Still ist der Abend auf der Burg.
Und dunkel.
Nur ab und zu ferne Mündungsfeuer.
Und der Widerhall von Schüssen aus Srebrenica.

Schlaflose Nächte

Zuerst, vor anderthalb Jahren, war's eine Schnapsidee: "Ich werde der erste Burgschreiber von Beeskow!"
Dann rückte der Zeitpunkt näher. Die Burgschreiberei, lange verdrängt, bereitete nun die eine oder andere schlaflose Nacht. Wirklich.
Träumen von Beeskow wird normal.
Zum Termin hin wächst der Druck.
Was erwarten die eigentlich?
Soll was Druckreifes entstehen?
Muß ich was erfinden?
Was beweisen?
Nachfragen bringen keine Klarheit. Aber mir einfach ein paar schöne Stunden machen - das ist mir zu billig.

Ein bißchen Sehnsucht nach...

Annäherung an Beeskow über Frankfurt/Oder. Akklimatisieren. Ich nehme teil an Ulrich Plenzdorfs erster Lesung seit drei Jahren. Er liest im "Haus der Künste". Ich erbitte mir den Text von " Sehnsucht". Da heißt es unter anderem:

"Ich sehn' mich so nach ein bißchen Unterdrückung
nach bißchen Kult und bißchen Staatsverzückung.
Nach bißchen Klärung eines Sachverhalts.
Nach Knast, im Falle eines Falles.
Nach bißchen Planung, bißchen Leitung.
Nach bißchen Langeweile in der Zeitung.
Nach 'nem zackjen 1. Mai.
Immer nur frei?
Immer nur frei?
Immer nur frei?"

Diese "Sehnsucht" und Plenzdorf überhaupt kommen gut an.
Bei den anderen und bei mir. Der Maler Rainer Elfers, (vorrübergehend) Kulturreferent in Frankfurt (Oder), bringt mich zu seinen Freunden, dem vielversprechenden Autodidakten Reno, der in Kaisermühl, am Kanal, lebt und arbeitet, eine Existenz als Künstler sucht, arm ist und doch reich, und dann eine Begegnung mit Peter Mikoska, dem Töpfer in Müllrose, auf der anderen Seite des Kanals. Ein erstes Treffen, nicht weiter vertieft, wegen der überfülle der bisherigen Eindrücke, wenngleich beeindruckend.
Fortsetzung folgt vielleicht.

Ankunft in Beeskow

Und dann die Ankunft in Beeskow. Einzug in die Burgschreiberei. Die Hände leer, den Kopf voll, die Wände kahl. EinprovisorischerbSchreibtisch wird geliefert. Wolfgang de Bruyn leiht eine vorsintflutliche Schreibmaschine, Marke Rheinmetall (ich dachte, die machen nur Kanonen...), ohne Farbband. Burgdirektor Herbert Schirmer luchse ich eine Kleinplastik von Franziska Lobeck-Schwarzbach ab. Sie kommt auf einen wundervollen Holzklotz, der auf dem Burghof herumliegt. Dazu sammle ich als nächstes einen gewaltigen Stein, der sicher aus dem alten Pflaster stammt.

Armut zündet Phantasie???

Die Möbel sind noch unterwegs, der Innenarchitekt bringt sie höchstpersönlich. Später müssen sie noch zusammengeschraubt werden. Das paßt zusammen damit, daß dort ein Ausguß fehlt, hier ein Haken. Und eine Dusche überhaupt vergessen worden ist. Wir trösten uns mit der ebenso oft geäußerten wie falschen Meinung: "Künstler müssen arm sein, wenn ihre Phantasie anspringen soll." (Dann müßten Politiker jetzt erst mal eine Zeit lang von der Sozialhilfe leben...)
Eine Ersatzschreibmaschine kommt. Dazu ein Computer. Der Drucker streikt. Ich spanne einen Bogen in die Schreibmaschine, greife in die Tasten. Der erste Text in der Burgschreiberei, Datum 20. April 1993: "Wie weit sind wir? Fast am Ende!"
Am Abend vor der Eröffnung sind wir uns einig: "Wir sind die Trockenwohner."
Am Tage nach der Eröffnung lesen wir die Bestätigung in der "Süddeutschen": Wir sind eingeladen, "um die Konzeption erst mal zu testen" (Zitat Burgdirektor Herbert Schirmer).

Stachel zur Kunst

Wir....?????
Eckhard Böttger, Maler aus Finsterwalde, Reinhard Jacob, Bildhauer aus Berlin (Ost), und Heinz Koch, Journalist und Theatermensch aus Ulm. Das erste Gespräch beim Nachmittagsvesper dreht sich gleich um nichts weniger als den "Stachel zur Kunst" (Jacob), um den "Kampf gegen den Tod". Also um alles! Ich ahne gleich, es können lebendige Zeiten werden auf Burg Beeskow.
Auch das Treffen, Gespräche mit dem Grafiker Hans-Joachim Petzak, der im Zimmer nebenan residiert, verstärken diesen Eindruck. er kennt Grafikerfreunde aus Ulm, Fred Kern und Hans-Peter Lahaye, die mit dem berühmten Otl Aicher und anderen von der Bauhaus-Nachfolgerin HfG (Hochschule für Gestaltung) in der Münsterstadt an der Donau zusammengearbeitet haben.

Viele Möglichkeiten

Schnell reifen Gedanken, was man alles zusammen tun könnte. Böttger, der auch Keramikmaler ist, könnte natürlich ebenso gut mit der Töpferei zusammenarbeiten wie Reinhard Jacob, der seine sachen im Ofen der Töpferwerkstatt "fertigbacken" kann.
Und der Burgschreiber? Wenn der willens und in der Lage ist, aus seinem Elfenbeinturm herauszukommen, bietet sich ihm ein weites Feld: Texte für seine Künstlerkollegen könnte er machen, ihre Arbeiten besprechen, erläutern, hinterfragen. er könnte Dienste leisten im Zusammenhang mit dem von Dr. Leonore Scholz-Irrlicht auf Burg Beeskow aufzubauenden Regionalmuseum. er könnte die Schreibwerkstatt auf Burg Beeskow mitbetreuen, Gespräche mit Lehrern und Schülern suchen, mit dem Publikum auf der Burg, nicht nur bei Literatur-Veranstaltungen. Und schließlich könnte er mit seiner Sicht der Dinge und mit seiner Schreibweise eine bestimmte Farbe in der Lokalzeitung liefern.
Schade, daß ich nicht mehr ganz ungebunden, kein freier Autor bin...doch ja, die Burgschreiberei könnte mich locken.

Emotionales Gedächtnis gereizt

Schon allein weil auf dem Weg zum Bahnhof der Hauch verbrannter Braunkohle das emotionale Gedächtnis reizt und Erinnerungen weckt, an die Jugend im Ruhrpott.
Und dann aber auch wegen der ersten, kurzen Begegnungen mit Menschen: Der Typ in der Kneipe, ein Thekenhocker, fragt Böttger und mich, ob wir auch Trucker sind; er hätte so gern mit uns über die Truckerei geredet.
Und der junge Mann im Gasthaus, der erzählt, wie erschreckend er die jungen Rechten auf dem Lande findet.
Ich bin mehr erstaunt: Wieso kann eigentlich das, was mich an meinen Großeltern so furchtbar gelangweilt hat, wieso kann dieser spießbürgerliche Mief die Urenkel anmachen?
Und dann blättere ich in dem einzigen, was ich nach Beeskow mitgebracht habe: im Werk des Gehirnforschers Umberto Maturana mit dem Titel "Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit". Und da fesseln Sätze wie: "...es ist vielmehr unser mangelnder Wille, auf unsere kulturell erlernte und zutiefst genossene Lust zu verzichten, andere Menschen zu zwingen, unsere angebliche überlegenheit zu akzeptieren."
Und: "Sozialer Wandel kann sich nur aus ethischem Wandel ergeben, und eine soziale Revolution ist daher zuallererst eine kulturelle Revolution."







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